Coalition suisse pour la diversité culturelle
Schweizer Koalition für die kulturelle Vielfalt
Coalizione svizzera per la diversità culturale
Coaliziun svizra per la diversitad culturala

Publikationen und Stellungnahmen der Koalition

Umschlag"

Der Bericht 2009

»Kulturelle Vielfalt – mehr als ein Slogan

Im Oktober 2009 – ein Jahr, nachdem die Konvention von 2005 in der Schweiz in Kraft getreten ist, legten die Koalition und die Schweizer Unesco-Kommission einen ersten Bericht vor.

Die Vorschläge sind das Ergebnis der gemeinsamen Reflexion von rund sechzig Akteuren aus den Bereichen Kultur, Kommunikation, Bildung, Entwicklungszusammenarbeit und Wirtschaft, die sich für den Schutz und die Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen im Inund Ausland einsetzen. Sie erheben nicht den Anspruch, die gesamte kulturelle Landschaft der Schweiz widerzuspiegeln oder auf alle aktuellen oder zukünftigen Herausforderungen Antworten zu geben. Sie sind kein abschliessender Katalog, sondern eher der Auftakt zu einem längerfristigen Prozess.

Der gedruckte Bericht ist zweisprachig und fasst die sektoriellen Berichte der acht Expertengruppen zusammen, die sich erstmals am 31. März 2009 in Solothurn beraten und in der Folge bei weiteren Treffen ihre Empfehlungen und Vorschläge weiterentwickelt haben.

Die vom Berichterstatter Daniel Fueter verfasste Einleitung gibt einen Überblick über die grundlegenden Zusammenhänge und die transversalen Themen.

Die Themen der acht Expertengruppen waren: Internationale Zusammenarbeit, Musik, Literatur, Theater- und Tanzschaffen, Visuelle Kunst und Kulturgüter-Erhaltung, Film/Kino, Bildung, Medien.

Die Originalberichte der Sektoren erscheinen im gedruckten Bericht – zum Teil sehr stark – gekürzt, wobei die Empfehlungen in der Regel vollständig übernommen sind. Sie können aber in der jeweiligen Originalsprache einzeln oder gesamthaft als PDF heruntergeladen werden.


Den Bericht als PDF herunterladen: deutsche Version | französische Version (900 kB)
Den Bericht und alle ungekürzten Sektorenberichte als Archiv herunterladen (in Vorb.)
Den gedruckten Bericht bestellen: info@coalitionsuisse.ch

Die vollständigen Berichte der Expertengruppen als PDF:


Vorwort des gedruckten Berichts

Das UNESCO-Übereinkommen zum Schutz und zur Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen – ein erster Schritt auf dem Weg zur Umsetzung in der Schweiz

Ziel des UNESCO-Übereinkommens zum Schutz und zur Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen, das im Oktober 2005 in Paris verabschiedet wurde, ist die Förderung der Schaffung, der Herstellung und der Verbreitung der unterschiedlichsten kulturellen Ausdrucksformen sowie des Zugangs zu diesen.

Die Schweizer Koalition für die kulturelle Vielfalt und die Schweizerische UNESCO-Kommission engagieren sich für die Umsetzung dieser Ziele in der Schweiz. Auf Initiative der Koalition und der Kommission hatte die Zivilgesellschaft die Behörden bereits bei den internationalen Verhandlungen zum UNESCO-Übereinkommen unterstützt. Sie beteiligte sich aktiv am Prozess, der zur Ratifizierung des Übereinkommens in der Schweiz führte. Nun trägt sie mit diesem ersten Bericht zu dessen Implementierung bei und wird sich auch für die Umsetzung der vorgeschlagenen Massnahmen einsetzen.

Dieses Engagement beruht auf dem zentralen Artikel 11 des Übereinkommens: »Die Vertragsparteien erkennen die grundlegende Rolle der Zivilgesellschaft beim Schutz und bei der Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen an. Die Vertragsparteien ermutigen die Zivilgesellschaft zur aktiven Beteiligung an ihren Bemühungen, die Ziele dieses Übereinkommens zu erreichen.« Am 16. Oktober 2008 wurde die Schweiz vollwertiger Vertragsstaat des Übereinkommens. Genau ein Jahr später schlagen die Koalition und die Kommission mit diesem Bericht eine Reihe von praktischen Massnahmen vor, um das auf internationaler Ebene eingegangene Engagement in der Schweiz umzusetzen.

Die Vorschläge sind das Ergebnis der gemeinsamen Reflexion von rund sechzig Akteuren aus den Bereichen Kultur, Kommunikation, Bildung, Entwicklungszusammenarbeit und Wirtschaft, die sich für den Schutz und die Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen im Inund Ausland einsetzen. Sie erheben nicht den Anspruch, die gesamte kulturelle Landschaft der Schweiz widerzuspiegeln oder auf alle aktuellen oder zukünftigen Herausforderungen Antworten zu geben. Sie sind kein abschliessender Katalog, sondern eher der Auftakt zu einem längerfristigen Prozess.

In einer Zeit, da die Vielfalt der kulturellen Ausdrucksformen durch eine globalisierte Monokultur bedroht ist, muss mit Nachdruck daran erinnert werden, dass kulturelle Aktivitäten, Güter und Dienstleistungen nicht nur einen kommerziellen Wert haben. Filme, Bücher, Musik, Medien sind Träger von Identität, Werten und Sinn. Das Übereinkommen erlaubt es den Staaten, die Kulturschaffenden, deren Erzeugnisse und die Kulturwirtschaft zu schützen und zu unterstützen. Sie ruft sie auch dazu auf, die Entwicklungsländer bei ihren Bestrebungen in diesem Bereich solidarisch zu begleiten.

Dies ist ein anspruchsvolles und komplexes, aber auch ein vielversprechendes Unterfangen, das nach einer breiten Palette von Kompetenzen, Kenntnissen und Erfahrungen und damit einer engen Zusammenarbeit zwischen Kulturakteuren, Behörden und der Privatwirtschaft ruft. Mit dem vorliegenden Bericht möchten wir die Debatte eröffnen und die betroffenen Akteure ermuntern, sich dem Anspruch dieses Übereinkommens gemeinsam zu stellen. An dieser Stelle möchten wir allen, die uns bei unserer Arbeit unterstützt und begleitet haben, insbesondere dem Berichterstatter, den Expertinnen und Experten sowie den Redaktoren dieses Berichts, ganz herzlich danken.

Francesca Gemnetti
Präsidentin der
Schweizerischen UNESCO-Kommission

Beat Santschi
Präsident der
Schweizer Koalition für die kulturelle Vielfalt

Diego Gradis
Vizepräsident der Schweizerischen UNESCO-Kommission
Vizepräsident der Schweizer Koalition für die kulturelle Vielfalt


Einleitung des Berichterstatters

Dieser einführende Text hebt mehrfach genannte Erkenntnisse hervor und möchte einen orientierenden Zusammenhang herstellen.

Das Geleitwort als PDF-Dokument herunterladen...


DANIEL FUETER

ZUM GELEIT

Vorbemerkung. In dieser Publikation werden Berichte aus einer Vielzahl kultureller Sektoren vorgelegt. Sie thematisieren die Umsetzung der UNESCO-Konvention über den Schutz und die Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen. Der Auftrag für diese Einleitung lautet, mehrfach genannte Erkenntnisse hervorzuheben und einen orientierenden Zusammenhang herzustellen. Das Vorwort hat somit eine Vielzahl von Autorinnen und Autoren. Der Unterzeichnende darf sich mit grossem Dank für diese Kooperation als Redaktor im ursprünglichen Sinne zu erkennen geben, als (Gedanken-)Sammler und (Ideen-)Anordner.

Die Publikation ist zweisprachig gehalten. Das Geleitwort wurde auf Deutsch geschrieben. Es ist im Text von Denkstilen die Rede, die jeweils durch die Sprache bedingt sind. Der Unterzeichnende kennt die Schwierigkeit, die Suchbewegungen seiner deutsch geprägten Denkanstrengung in die Klarheit des cartesianisch geformten Französisch zu übertragen. Er bittet dafür um Entschuldigung. Es liegt hier schon das erste Beispiel vor, wie herausfordernd der Umgang mit kultureller Vielfalt sein kann.

In diesem Zusammenhang sei der Hoffnung Ausdruck gegeben, dass es im Sinne des Themas »Schutz und Förderung von Vielfalt« bezüglich des gesamten Projektes gelungen sein möge, dem Reichtum der Vielstimmigkeit des Chores von Expertinnen und Experten Rechnung zu tragen und doch den Grundtenor vernehmbar herauszuarbeiten.


Wenn in einem Labor von Kulturen die Rede ist, denken wir an die Entwicklung von Organismen. Die Stichworte Unternehmenskultur, Gesprächskultur, Streitkultur weisen auf atmosphärische Bedingungen und eingespielte Verhaltensmuster im gesellschaftlichen Zusammenleben hin. Der Kulturraum bezeichnet eine gesellschaftlich oder geographisch definierte Einheit. Baukultur umfasst geschichtlich bedingte und wissenschaftsbasierte, handwerklich-künstlerische Konzepte und Verfahren, welche sich in Gebäuden und Anlagen konkretisieren. »Kultur« offenbart sich in vielfältigen Erscheinungsformen quer durch alle Aspekte des menschlichen Zusammenlebens.

Kultur ist Lebensqualität

Von Kultur reden heisst, von Qualitäten menschlichen Lebens im Hinblick auf dessen Entwicklung und Gestaltung unter verschiedenartigen Voraussetzungen reden. Wir halten uns an einzelne Kulturen, um uns über Kultur zu verständigen. Aus der Vielfalt mögen uns dann gemeinsame Merkmale als konstituierend für den Kulturbegriff zufallen. Die Möglichkeit einer Koexistenz von Kulturen ist Teil des Kulturbegriffs. Der Anspruch auf Ausschliesslichkeit ist ein Element, welches Machtpolitik, religiös bestimmte Regelwerke und fundamentalistische Tendenzen einzelnen Kulturen aufzwingen. Umgekehrt hat die Offenheit verschiedensten Kulturformen, jeglichem Brauchtum und mannigfaltigen Traditionen gegenüber ihre Grenze im übergeordneten Anspruch auf den Schutz der Menschenwürde und den respektvollen Umgang mit der Lebenswelt.
Das Gespräch über Kultur geht – allein durch die Vielzahl der Ebenen, auf der es sich abspielen muss – von einem vielfältigen Menschenbild aus. Dieses Menschenbild steht der Uniformierung und Anonymisierung der Menschen ebenso entgegen wie dem Anspruch auf eine verordnete Verfügbarkeit im Dienste welcher übergeordneten Idee auch immer. Die Vielschichtigkeit des Kulturbegriffs belegt, dass Kultur selbst nicht auf die Dimension einer Ware reduziert und als Ware gehandelt werden kann.

Kulturelle Werte gehören zu den Grundlagen des Zusammenlebens

Jahrzehntelang wurde auch hierzulande der Blick auf das Lebensnotwendige durch eine ökonomistische und utilitaristische Sichtweise verengt und verzerrt. Vergessen ging, dass die Ökonomie eines Fundamentsbedarf. Die Beschaffenheit dieser Basis wird zur Hauptsache von anderen als ökonomischen Elementen bestimmt. Staatliche und gesellschaftliche Regelungen, ökologische und historische Voraussetzungen gehören dazu. Die Wirtschaftsordnungen wurzeln in diesem Fundament und beziehen daraus Legitimation, Sicherheit und Lebenskraft. Das Wort Kredit ist mit den Begriffen Vertrauen, Treu und Glauben verbunden. Diesen Grundlagen muss wieder die erste Sorge gelten, wenn die Gesellschaft einen Weg aus der Sackgasse finden soll, in welche eine schrecklich vereinfachende Ökonomiegläubigkeit geführt hat. Zu diesen Grundlagen gehört wesentlich eine Vielzahl kultureller Werte.

Je nach Fragestellung lassen diese sich verschieden beschreiben: Teil der Kultur sind alle Arten und Weisen, wie wir mit unseren Existenzgrundlagen umgehen, und alle unsere Anstrengungen, über die Voraussetzungen unserer Existenz und über uns Erkenntnisse zu gewinnen. Oder: Kulturen sind Lebens- und Bewegungsräume. Sie sind eine Art Hülle um den Erdball unserer Realitäten, die uns zu atmen erlaubt. Oder: Kultur dient uns als Spiegel; als Rückspiegel, der uns die Wurzeln unserer Identität erforschen lässt, als Spiegel der uns das Hier und Heute reflektierend vor Augen führt, und – emphatisch ausgedrückt – als reflektierende Fläche, die Licht in die Dunkelheit der Zukunft zu werfen im Stande ist.

Die Bedeutung der UNESCO-Konvention für die Schweiz

Es ist eine Entscheidung von grosser Tragweite, dass die Schweiz 2008 das Übereinkommen der UNESCO über den Schutz und die Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen aus dem Jahr 2005 ratifiziert hat. Die Schweiz bekundet damit den Willen, für Kulturschutz und -förderung einzustehen. Die Zusage ist erfolgt, eine Fülle konkreter Aufgaben anzugehen und für die Zukunft in Besinnung auf das kulturelle Erbe Verantwortung zu übernehmen. Die geeigneten Massnahmen für eine Umsetzung der ratifizierten Konvention sollen in Absprache und in Zusammenarbeit mit den internationalen Gremien erfolgen.
Die Ratifikation bedeutet in erster Linie, dass Kulturpolitik als primäre und prioritäre Aufgabe auch auf Bundesebene anerkannt wird. Dieser Schritt ist notwendiger denn je. Gesellschaftliche und technologische Umwälzungen rufen nach neuen kulturpolitischen Strategien. Zwei Aspekte seien genannt.

Die Folgen der Globalisierung und der digitalen Revolution

Erstens: Im Zusammenprall von standardisierten globalen kulturellen Manifestationen mit eigen- und einzigartigen nationalen oder regionalen kulturellen Prägungen und Kreationen ist die kulturelle Vielfalt bedroht. Der Staat hat sich verpflichtet, für diese bedrohte Vielfalt einzustehen. Kulturpolitik ist der Ökopolitik verwandt: das Engagement muss vom Lokalen – von der Erhaltung der Artenvielfalt auf kleinstem Raum – bis hin zu Massnahmen reichen, welche nur dank internationaler Abkommen durchzusetzen sind. Zweitens: Die digitale Revolution hat alle Sektoren des Kulturlebens ergriffen. In den Bereichen Kommunikation und Musikindustrie ist die radikale Veränderung besonders offensichtlich, doch sind ebenso die Medienlandschaft und die visuellen Künste miteinbezogen. Es gilt dies für die ganze Kette, die vom Kreieren bis zum Vermitteln reicht, ob es den Film, die Literatur oder andere künstlerische Sparten betrifft. Der stets beschleunigte Prozess betrifft alle kulturellen Sektoren, überall stellen sich ähnliche Fragen.
Wie ist die Angebotsvielfalt unter den neuen Gegebenheiten des Marktes zu erhalten? Wie ist es kleineren Betrieben möglich, die Infrastrukturen, welche die neuen Technologien erfordern, einzurichten? Wie ist das historische Repertoire zu archivieren, zu dokumentieren, zu präsentieren? Und immer wieder, und ganz besonders dringlich: wie sind die Rechte der Urheberinnen und Urheber in der neuen Situation zu wahren? Die Antworten auf diese und Dutzende weiterer Fragen kann nur eine koordinierte und kohärente schweizerische Kulturpolitik geben.

Kulturpolitik als primäre und prioritäre Aufgabe des Staates

Kulturpolitik ist als Aufgabe des Staates in der Bundesverfassung verankert. Es scheint, als wären in einzelnen Verfassungsartikeln Erkenntnisse, die in der UNESCO-Konvention zu finden sind, gleichsam vorgezeichnet. Der generelle Zweckartikel nennt Wohlfahrt, nachhaltige Entwicklung, inneren Zusammenhalt und kulturelle Vielfalt als Ziele. Aufschlussreich allein ist nicht die Erwähnung der kulturellen Vielfalt an prominenter Stelle, sondern die Einbindung dieser Thematik in den Kontext Lebensqualität, Zukunftsorientierung und Identität.
Der hier festgeschriebene Zusammenhang von Wohlfahrt und kultureller Vielfalt leuchtet unmittelbar ein. Überraschend, doch nicht minder schlüssig ist es, wenn in der Zusammenstellung eine gegenseitige Abhängigkeit zwischen nachhaltiger Entwicklung und reicher Kulturlandschaft festgestellt wird. Nur ein anregendes, vielseitiges kulturelles Umfeld befähigt die Menschen, zukunftsträchtige Entwicklungen innovativ und selbstbewusst, flexibel und entschieden voranzutreiben.

Vielfalt stärkt den Zusammenhalt

Diese Entwicklung fördert wiederum Identität. Vielfalt und Zusammenhalt sind keine Wider-sprüche. In der Formulierung »innerer Zusammenhalt« offenbart sich das Wissen von der Verschiedenartigkeit der Energien, die gebündelt gehören. Harmonie ist nicht Gleichklang. Kulturelle Vielfalt trägt gerade in der Schweiz zum Zusammenhalt und zum Selbstbewusstsein bei: die schweizerische nationale Identität wird von einer Kultur der Differenzen getragen. Hier liegt der entscheidende Beitrag des schweizerischen Kulturlebens zur Integration, und damit zu einem der zur Zeit vordringlichsten und umfassendsten Themen des schweizerischen Staatswesens. Im Herkommen des Begriffs Integration ist nicht nur das grössere Ganze, der Zusammenschluss gemeint, sondern auch das Wiederherstellen, das Ergänzen und das Auffrischen. Integration ist immer auch ein innovativer Prozess. Es geht nicht bloss darum, das neue assimilatorisch ins Bestehende einzugliedern, sondern um ein erneuerndes Ergänzen. Integration bedarf der offenen Optionen im Bewährten und Vertrauten wie im Neuen und Fremden. Der Integrationsprozess ist mit der Eingliederung nicht abgeschlossen, sondern muss von allen Beteiligten gepflegt werden, um die Frische, die Lebendigkeit des grossen Ganzen zu erhalten und zu nähren.

Integration heisst Partizipation

Integration ist ohne Partizipation nicht zu haben. Die gemeinsame Beteiligung am Ganzen allein garantiert Zusammenhalt. Dies gilt für den Staatenbund wie fürs Streichquartett. Partizipation hat als Basis den Austausch. Die dialogische Form, auf der kulturelles und künstlerisches Schaffen beruht, lässt das Kulturleben zum idealen Übungsfeld partizipatorischer und damit integrativer Prozesse werden. Nach der kulturellen Vielfalt im Zweckartikel sind in der Verfassung die Gewährung der Chancengleichheit, die Erhaltung des natürlichen Lebensraumes und die Friedenssicherung genannt. Damit sind erste und einschneidende Hinweis auf verschiedenartige Politikfelder gegeben, mit denen Kulturpolitik zu tun hat: Bildungs-, Umwelt-, Sozial-, Aussenpolitik. Die Aufzählung lässt die Komplexität der Aufgabe, kulturpolitische Strategien zu entwickeln, erkennen. Die Komplexität hat nicht nur mit dieser Vernetzung, sondern mit der Vielfalt und Unterschiedlichkeit der kulturellen Ausdrucksformen selber zu tun. Es erstaunt nicht, dass die Verfassung für eine Kunstsparte, den Film, einen eigenen Artikel bereithält. Im Verfassungsartikel ist der Auftrag festgehalten, schweizerische Filmkultur und -produktion zu fördern. Die Parallelität Kultur und Produktion weist auf den Grundsatz hin, dass Kulturförderung immer auch Unterstützung der aktuellen Kreation mit einschliesst. Zudem koppelt der Artikel in der Nennung der Berechtigung des Bundes, Vorschriften für die Filmförderung zu erlassen, Vielfalt und Qualität. Das Anrecht auf Förderung von Vielfalt muss mit dem Anspruch auf Qualität verbunden sein.

Verständigung und Austausch sind zwei Grundpfeiler der Kulturpolitik

Dies gilt auch für die in der UNESCO-Konvention genannten kulturellen Ausdrucksformen. Deren Qualität bemisst sich nicht nur an Einmaligkeit oder ästhetischen und handwerklichen Kriterien, sondern auch daran, inwiefern sich im Einzigartigen Gemeinsames entfaltet. Wer sich ausdrückt, will sich verständlich machen, sucht das gemeinsame Gespräch. Die Verfassung will dieses Gespräch über die Sprachgrenzen hinaus garantieren: »Bund und Kantone fördern die Verständigung und den Austausch zwischen den Sprachgemeinschaften.« Verständigung setzt Selbstverständigung, Selbstverständnis und Verständnis für die Andern voraus und ist Voraussetzung für den Austausch, der allein der Gesellschaft die Möglichkeit gibt, zu überleben und sich zu entwickeln. Mit den Begriffen Verständigung und Austausch bringt die Verfassung zwei für die Vielfalt zentrale kulturpolitische Massgaben ins Spiel. Die in der Verfassung dokumentierte Forderung nach Sorgfalt im Umgang mit den Sprachgemeinschaften ist ein aktuelles bildungs- und kulturpolitisches Thema geblieben. Trotz der zunehmenden Bedeutung nonverbaler Kommunikation, spielt die Sprache im Zusammenhang mit Verständigung und Austausch die Hauptrolle. Insbesondere auch in schriftlicher Form macht sie den Austausch über Zeit und Raum und gesellschaftliche Grenzen hinaus möglich. So wie wir uns an einzelne Kulturen halten müssen, um uns über Kultur zu verständigen, so an einzelne Sprachen, wenn es um Sprache geht. Sie sind einzigartig »verkörpertes Denken« und haben einmalige »Denkstile« und »Wissenskulturen« hervorgebracht; die Beschränkung auf das Englische als Umgangssprache zum Beispiel auf dem Feld der Wissenschaft führt zu einem »Verlust von Welthaltigkeit und gedanklicher Generosität«. So schreibt der Wissenschaftshistoriker Michael Hagner. Die Überlegung erinnert an die Feststellung des deutschen Dichters Peter Hacks, der die einzelnen künstlerischen Genres als Fenster zur Welt beschrieben hat, deren jedes einen einzigartigen Blick ermögliche, und mit dessen Verschwinden immer eine spezifische Ansicht der Welt verloren gehe.

Mehrsprachigkeit ist gelebte kulturelle Vielfalt

Ohne sorgfältiges Umgehen mit der jeweiligen Landessprache und regionalen dialektalen Formen gehen der Schweiz grosse Stücke Welt verloren. Die Landessprache ist das feinste Netz, mit dem sich die Kultur des Landes einfangen und im Diskurs entwickeln lässt. In der wissenschaftlichen und künstlerischen Praxis erweist sich, dass das disziplinäre Vermögen erst zur Transdisziplinarität befähigt. Ähnlich steht es um den Spracherwerb – von Ausnahmebegabungen abgesehen. Die Förderung der ersten Sprache ist für die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und für die Schulung des Denkens entscheidend.
Die in der Verfassung verlangte Förderung der Sprachen im nationalen Umfeld im Sinne des Austausches stellt darauf aufbauend einen wesentlichen Beitrag zum Zusammenhalt dar und ist ein gewichtiger Teil des Schutzes der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen. Mehrsprachigkeit ist gelebte kulturelle Vielfalt. Der Spracherwerb in der sogenannten fünften Landessprache, der Sprache der Sprachgemeinschaften der Migrantinnen und Migranten, ist dabei zusätzlich zu bedenken und in »sprachpolitische« Konzepte einzubringen. Das bereichert und kompliziert die Ausgangslage. Innovative Konzepte in diesem Zusammenhang könnten aber rückwirkend auf den Umgang mit den tradierten Landessprachen fruchtbar werden.
Dem Erlernen des Englischen kommt für Tätigkeiten im internationalen Austausch, für die Welt der Politik, der Ökonomie und der Wissenschaft unter den Fremdsprachen zweifellos eine besondere Bedeutung zu. Zu bedenken wäre aber, ob ein Allerweltsenglisch den Zugang zu aller Welt wirklich öffnet. Könnte der Freiraum, den die Ausdehnung der Schulzeit durch frühere Einschulung geschaffen hat, nicht bessere Lösungen suggerieren, als ein möglichst frühes Einüben unter ungünstigen Vorzeichen?

Brücken von der Vergangenheit in die Zukunft

Eine Sprache zu lernen, bedeutet nicht nur, sich für den alltäglichen Umgang auszurüsten. Erst der Einbezug der literarischen Dimension öffnet den differenzierten Blick auf die einzelnen Sprachkulturen. Schülerinnen und Schüler sind darin zu unterstützen, unverwechselbare literarische Traditionen und Gestaltungsweisen sowie inhaltlichen Fokussierungen und verschiedene Formen der Autorschaft wahrzunehmen. So kann die Vielfalt der Sprachkulturen erfahren werden.
Im Konzert der Sprachen und unter den Instrumenten zum Schutz und zur Förderung der Vielfalt der kulturellen Ausdrucksformen spielen Bibliotheken als Orte der Archivierung und Dokumentation, als Orte der Orientierung und Information, als Ort der Anregung und des Austausches bildungs- und kulturpolitisch eine oft unterschätzte Rolle. Ihr Ausbau zu Mediatheken und die Förderung ihrer Nutzung bedürfen vermehrter Unterstützung. Nur so können sie der Brückenfunktion, die ihnen im Gegenüber des alphanumerischen Denkens und neuer visueller und szenischer Kommunikationsformen zukommt, gerecht werden. Der Auftrag, computergenerierte Erzeugnisse ebenso zu speichern wie solche aus herkömmlicher Produktion sowie gleichzeitig den tradierten und den Neuen Medien gerecht zu werden, stellt Gedächtnisinstitutionen vor Herausforderungen, denen sie nur mit verstärkter Unterstützung der öffentlichen Hand gewachsen sein werden. Das Ineinandergreifen von Konservieren und Vermitteln, Pflege der Tradition und des gegenwärtigen Schaffens gehört zum Leistungsauftrag aller Museen. Sie werden damit zu idealen Foren kulturpolitischer und im weitesten Sinn bildungspolitischer Arbeit. Museumspolitik ist ein herausragendes Thema der nationalen Kulturpolitik.

Kulturelle Bildung gehört ins Curriculum

Im Kulturartikel der Bundesverfassung, welcher dem Bund das Recht gibt, Kunst und Kultur von gesamtschweizerischem Interesse zu fördern, wird die Kulturförderung auf den Bereich der Ausbildung bezogen. Die Rücksicht auf die sprachliche Vielfalt des Landes wird ausdrücklich gefordert. Der Gesetzgeber macht deutlich, dass an Austausch und Verständigung nur Bürgerinnen und Bürger teilhaben, die über den entsprechenden Bildungs- und Informationsstand und insbesondere Sprachvermögen verfügen. Der Einsicht, dass Sprache, Schulung des Lesens, literarische Leseförderung als Teil des Bildungsprozesses entscheidend zur intellektuellen Prägung beitragen, ist weit entschiedener als heute üblich nachzuleben. Die Stellung der tradierten Fächer Musik und Zeichnen muss wieder gestärkt werden. Kulturelle Bildung muss insgesamt einen Stammplatz im Curriculum erhalten, quer durch die Altersgruppen von der Vorschule bis zur Weiterbildung. Wenn die Schule verallgemeinernd formuliert den Auftrag hat, einerseits forschende Neugier zu wecken und zu differenziertem Wahrnehmen anzuhalten, und andererseits die Eigenständigkeit gleichzeitig mit der Sozialkompetenz zu fördern, bietet sich der aktive Umgang mit Stoffen aus der Kultur- und Kunstwelt als Material möglicherweise in erster Linie an. Es geht nicht darum, ungezählte einzelne »musische« Schulfächern einzuführen, sondern zum Beispiel um ein erweiterndes, fächerübergreifendes und exemplarisches Vermitteln von Medienkompetenz. Der interkulturelle Austausch ist dabei ebenso zu berücksichtigen wie das »globale Lernen«, welches die Einsicht in übernationale Zusammenhänge fördert. Die Bildungsinstitutionen dürfen dabei nicht alleine gelassen werden. Zumindest die öffentlich finanzierten Medien, Radio und Fernsehen, müssen mithelfen, dass Multikulturalität nicht nur als beliebiges Panoptikum erlebt werden kann, sondern konzentrierte Konstellationen geschaffen werden, welche Einsicht ermöglichen. Es gibt schon eine Charta zur Förderung der Präsenz schweizerischer Musik zwischen Schweizer Musikschaffenden und der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft. Dreierlei wäre wünschbar: erstens, dass auch private Anbieter im Medienbereich beitreten würden; zweitens, dass diese Charta zur konkreten Zusammenarbeit mit Volks- und Mittelschule verpflichten würde; drittens, dass die Charta Vorbildcharakter für andere kulturelle Felder hätte. Der beispielhafte »Pacte de l’audiovisuel« zur Förderung der einheimischen Produktion zwischen Filmverbänden und dem Fernsehen verdient in diesem Zusammenhang ebenfalls Erwähnung.

Die Schule als Garant der Chancengleichheit

Bildung wird weniger über Deklarationen vermittelt, als über Erfahrungen. Wir werden eher imprägniert als geformt, im Elternhaus, im gesellschaftlichen Umfeld, in der Schule. Diese Prägung ist immer auch kultureller Natur. Je umfassender die Aufgaben der Bildungsinstitutionen auch in kulturpolitischer Hinsicht werden, umso bestimmender auch ihr Einfluss auf Schülerinnen, Schüler und Studierende. Die Bildungsinstitutionen werden als Modelle erlebt. Ihr Funktionieren muss mit den Lehrinhalten übereinstimmen. Das bedeutet, dass die Strukturen der Institutionen als lernende Strukturen gestaltet werden müssen, und als Strukturen, die Erfahrungen im Sinn der Ausbildungsziele erlauben. Inmitten all dieser Herausforderungen bringen uns weniger technokratische Entscheide und Verordnungen voran, als der Diskurs der Lehrenden. Sie müssen in ihrer Ausbildung und im Berufsalltag ermutigt, befähigt und unterstützt werden, Haltungen zu vertreten und Standpunkte einzunehmen, die unmittelbar dem Interesse der ihnen Anvertrauten dienen. Sie sind einem Menschenbild verpflichtet, das sich in der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen herausgebildet hat und herausbildet. Chancengleichheit, beziehungsweise ein umfassendes und sozialverträgliches Bildungsangebot sind Grundvoraussetzungen für den freien Zugang zum Kulturleben. Unser Kulturleben fusst auf der Nutzung dieses Zugangs und legitimiert sich dadurch. Das Engagement zum Schutz und zur Förderung der Vielfalt der kulturellen Ausdrucksformen hat in der Schweiz nicht nur in der Verfassung eine wichtige Fürsprecherin, sondern kann auf der tatsächlich bestehenden kulturellen Diversität aufbauen.

Die Schweiz lebt kulturelle Vielfalt

Diese Diversität drückt sich in allen Lebensbereichen aus, in allen Angeboten der kulturellen Institutionen und der professionellen Szene der Kulturschaffenden, in der erstaunlichen Dichte kultureller Vereinigungen der Amateure und in der Vielzahl kulturell engagierter Organisationen der Zivilgesellschaft. Ihr entspricht eine Vielfalt von Kulturförderungsinstanzen auf Bundes-, Kantons- und Gemeinde-Ebene und ein Patchwork grosser und kleiner Stiftungen, die auf privater Ebene Kultur fördern. Der Bund darf und muss die Verantwortung für eine landesweite Kulturpolitik mit Gemeinden und Kantonen und Privaten teilen. Die Strategieentwicklung aber, der Kulturaustausch im Allgemeinen, die Gesetzesarbeit, die aussenpolitische Dimension und die Evaluation der Ergebnisse können nicht aufgeteilt und delegiert werden. Die Organisationen »vor Ort« müssen in dieser Hinsicht entlastet werden. Es ist zu hoffen, dass die aktuelle Diskussion um das Kulturförderungsgesetz Grundlagen schafft, die der Pflege der reichen Kulturlandschaft und der Unterstützung der bestehenden Instrumente der Kulturpolitik Rechnung trägt, und gleichzeitig die Basis für eine umfassende, strukturierte und nachhaltige Kulturpolitik legt. Bisher wurde in dieser Debatte die Tauglichkeit und Einmaligkeit der Stiftung Pro Helvetia nicht genügend gewürdigt. Neben der Förderung sind Austausch und Verständigung sind ihre Hauptaufgabe, die politische Unabhängigkeit ihre Chance. Sie bedarf angesichts der gegenwärtigen und zukünftigen Herausforderungen einer signifikanten Stärkung ihrer Position und einer Finanzierung in neuen Dimensionen.

Der innenpolitische Geltungsbereich der Kulturpolitik

Der Anspruch auf eine umfassende schweizerische Kulturpolitik im Sinne des Schutzes und der Förderung der Vielfalt der kulturellen Ausdrucksformen betrifft zum Ersten ihren Geltungsbereich. Auszugehen wäre von einer innenpolitischen Sicht:

  • Kulturförderung muss in allen Regionen des Landes präsent sein. Zur Bundesaufgabe gehört es, gerade den Landesteilen, welche für kulturelle Engagements weniger gut ausgestattet sind, besondere Unterstützung zukommen zu lassen.
  • Kulturpolitische Konzepte sollen sich auf alle Generationen beziehen. Mit Blick auf die Zukunft ist besonders an die Jugend zu denken, angesichts der demographischen Veränderungen muss aber auch den alternden Menschen, welche nicht mehr im Erwerbsleben stehen, vermehrt Aufmerksamkeit geschenkt werden.
  • Kulturpolitik hat alle sozialen Schichten im Blickfeld. Die Erweiterung des kulturellen Spektrums als Folge der Migration ruft dabei nach einer differenzierten Strategie, die Zunahme mangelhafter Lese- und Schreibkompetenz nach Notmassnahmen.
  • Kulturpolitik ist sorgfältig mit Bildungspolitik auf allen Ebenen abzustimmen. Dabei ist dem Gebiet der kulturell orientierten Ausbildung und Weiterbildung der Ausbildnerinnen und Ausbildner vermehrt Rechnung zu tragen.
  • Kulturpolitik betrifft die Förderung des Kulturschaffens in allen Grössenordnungen – Grossprojekte und Nischenproduktionen – und in allen Genres und Disziplinen, wobei neue und spartenübergreifende Entwicklungen besonderer Pflege bedürfen.
  • Kulturpolitik hat fördernd auf alle Teile der Produktionskette des Kulturschaffens Einfluss zu nehmen, beginnend bei der Kreation, über Produktion, Präsentation und Rezeption bis hin zur kritischen Reflexion und der Förderung des kulturellen Disputs in der Öffentlichkeit.
Medienpolitik und Kulturberichterstattung

Gerade im Bereich der Medienpolitik muss gleichzeitig mit kleinteiligen Massnahmen und mit grundsätzlichen Eingriffen dem Pressesterben, der Monopolisierung der Meinungsbildung und dem Ende der öffentlichen Kulturdebatte entgegengewirkt werden. So sind all jene Anbieter, die aus dem Gebührentopf Unterstützung erfahren, auf einen Kulturauftrag zu verpflichten, der demjenigen der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten entspricht. Im Hinblick auf die mit Empfangsgebühren alimentierten Fernsehanstalten ist auf Grund der Konzessionen eine höhere Sichtbarkeit kultureller Themen zu publikumsfreundlichen (und auch hinsichtlich der Genderproblematik sinnvollen) Sendezeiten durchzusetzen. Es muss – Mut zum Risiko und langer Atem vorausgesetzt – innovative Lösungen geben, die Aufmerksamkeit des breiten Publikums für die kulturelle Vielfalt zu wecken.
Mindestens so dringlich sind Strategien grösseren Massstabs. Die Situation hat sich zugespitzt. Die Konzentrationsbewegungen in der Medienlandschaft schaden der kulturellen Vielfalt, die Liquidierung bedeutender Verlage entzieht dem literarischen Schaffen die Grundlage, das zunehmend rasche Schwinden der Kulturberichte nicht nur in den Printmedien stellt den Beruf der Publizistin und Publizisten im Kulturbereich insgesamt in Frage. Das öffentliche Gespräch über Kultur, ein bedeutender Teil der kulturellen »Wertschöpfungskette«, verfügt bald weder über geeignete Orte und geeignete Instrumente noch geeignetes Personal. Hier ist in allen Landesteilen notfallmässig kulturpolitischer Handlungsbedarf auszumachen.

Forderungen an die Kulturschaffenden

Zur innenpolitischen Sicht gehört der Blick auf die Kulturschaffenden selber. Sie tragen zu Umsetzung der Konvention Entscheidendes bei. Dabei ist der Kreis der Repräsentantinnen und Repräsentanten im Blick auf Multikulturalität und die durch die Digitalisierung geschaffenen neuen Kulturfelder zu erweitern. Die Bemühung der Kulturschaffenden im Zeichen des Erhalts der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen muss vermehrt auch dem Bereich der Vermittlung gelten. Für den freien Zugang zur Kunst müssen die »freien« Künstlerinnen und Künstler als Erste kämpfen, ihn als Moment des eigenen Schaffens bearbeiten. Die Entwicklung von Modellen, die der Partizipation Raum lassen, ist in der Kultur- und der Kunstarbeit vordringlich. Es kann nicht angehen, dass – ähnlich der wirtschaftlichen Entwicklung – grosse Bevölkerungskreise an hoch bewerteten Bereichen des Kulturlebens keinen Anteil haben. Die bestehende Hierarchie der Kulturformen ist zu hinterfragen. Die gängige Behauptung eines Wertgefälles etwa zwischen den Werken der europäischen Hochkultur und jener aussereuropäischer Kulturen ist nicht aufrechtzuerhalten. Die unterschiedliche Repräsentanz bestimmter Kulturformen führt in der Praxis zu einem Ausschluss einzelner Bevölkerungsgruppen vom Kulturleben. Hier ist korrigierend einzugreifen. Quer durch die Bevölkerung muss erfahrbar werden, dass Kulturförderung ein Beitrag zur Gestaltung eines demokratisch bestimmten Zusammenlebens ist. Das kann nur geschehen, wenn die Kulturförderung den »Amateur« vermehrt als förderungswürdig identifiziert und das gesellschaftliche Segment der kulturell weitgehend Ausgegrenzten besonders ernst nimmt. Die Kulturschaffenden sind aufgerufen, dazu das Wort zu ergreifen.

Kulturschaffende gehören in kulturpolitische Fachgremien

Umgekehrt muss die Expertise der Kulturschaffenden in Organisation und Strukturierung der Kulturpolitik ernst genommen werden. In der parlamentarischen Diskussion des Kulturförderungsgesetzes ist die Etablierung eines Kulturrates bislang abgelehnt worden. Dabei steht fest, dass eine kulturpolitische Strategieentwicklung nicht Sache der Verwaltung, des Parlaments oder der Exekutive sein kann. Sie ist zunächst in einem Diskurs unter Fachleuten – Kulturschaffenden und Kulturvermittelnden – zu erarbeiten. Spezifisch ausgerichtete Fachgremien müssen neuartige Systeme der Kulturförderung prüfen, die kulturpolitische Dimension des Internets bedenken und ihre Expertise der flexiblen Projektförderung widmen. Eine besondere Sorge gilt dabei der Pflege der Zusammenarbeit mit der Verwaltung und den Organisationen privater Kulturförderung. Der Personenkreis der Fördergremien im Bereich der Entscheidungsträgerinnen und -träger wie der Kontrollorgane soll die multikulturelle Landschaft, die Entwicklung neuer Kulturformen und die Bedeutung der Laienbeteiligung in allen kulturellen Spielformen spiegeln.

Qualitätskriterien der Kulturförderung

Aufgabe solcher Gremien ist es auch, die Handlungsfelder der Kulturförderung zu definieren und jeweils zu aktualisieren. Der Leistungsauftrag der betroffenen Institutionen selbst ist zu prüfen und wenn immer möglich, über die klassische Spartentrennung und tradierte Kunstbereiche hinaus zu erweitern. Unter den Qualitätskriterien kommt der Förderung der Vielfalt selbst ein Platz zu und in diesem Sinne auch dem experimentellen Charakter sowie der Prägnanz der Autorschaft. Im Zeitalter des Events sind gerade auch die Nachhaltigkeit und das Bemühen um erfolgversprechende Vermittlungsmassnahmen neu zu bedenken. Alle diese Kriterien, zu denen Auflagen im Sinne partizipatorischer, interkultureller und bildungsorientierter Ansätze gehören, schärfen den prüfenden Blick. Sie sind nicht als obligatorische Teile starrer Regeln mit ausschliessendem Charakter, sondern als gewichtige Indikatoren zu verstehen.
Kulturförderung orientiert sich nicht an Regelwerken. Sie spielt sich in Handlungsfeldern ab, die der Diversität einzelner Initiativen Rechnung tragen, und gesteht diesen stets von Neuem den Charakter des Präzedenzfalles zu. Einzelne Kriterien aber, so die Verpflichtung gegenüber Ansprüchen urheberrechtlichen Charakters und gegenüber der sozialen Sicherheit der Kulturschaffenden, müssen selbstverständlicher Teil eines Kanons der Kulturförderung sein.

Kulturpolitik bedarf wissenschaftlicher Grundlagen

Ob es sich um Gremien handelt, die unmittelbar Kultur fördern, oder um Gremien, welche Strategieentwicklung in ihrem Leistungsauftrag verzeichnet haben, ob es um die Verwaltung geht, welcher die übergeordnete Organisation des Kulturlebens zugemutet wird, oder ob es um die Kontroll- und Evaluationsorgane, letztlich also auch das Parlament geht: alle beteiligten Körperschaften bedürfen der wissenschaftlichen Begleitung als einer wesentlichen Grundlage für die kulturpolitische Entscheidungsfindung.

  • Es bedarf wissenschaftlicher Studien zu den Konsequenzen, welche Entscheide in kulturfernen Politikbereichen für die Vielfalt der kulturellen Ausdrucksformen zeitigen. Umgekehrt heisst das: welche kulturell orientierten Fragen müssen in kulturferne Bereiche eingebracht werden? Die Frage nach der Kulturverträglichkeit ist systematisch zu stellen.
  • Die bisherigen Aktivitäten im Kulturaustausch der Schweiz mit dem Ausland bedürfen einer Analyse gerade im Hinblick auf Schutz und Förderung der Vielfalt der kulturellen Ausdrucksformen. Dazu bedarf es unter anderem auch statistischer Erhebungen.
  • Einer kulturpolitischen Provokation bedarf auch die historisch-systematisch ausgerichtete geisteswissenschaftliche Forschung: gerade die Kunstwissenschaften sind anzuregen, im Sinne kulturpolitischer Relevanz vermehrt an Grundlagen zu arbeiten, die einerseits einem künstlerischen Forschungsbegriff Rechnung tragen und andererseits der soziokulturellen Dimension mehr Raum geben.
  • Die praxisorientierte Forschung soll vermehrt mit den Gedächtnisstätten zusammenarbeiten. Es gilt, eine Fülle neuer Probleme im logistischen und technologischen Bereich zu lösen, es geht um Grundlagen, eine neue »Memo-Politik« umzusetzen.

Im Gegenzug ist die kulturpolitische Dimension in der Wissenschaftspolitik anzugehen. Erstens ist die Vielfalt im akademischen Feld zu erhalten: in den Geisteswissenschaften ist das Wegbrechen spezialisierter Fachrichtungen zu beobachten. Zweitens muss die Gesellschaft in Stand gesetzt werden, sich mit Entwicklungen in den Naturwissenschaften auseinanderzusetzen. Diffusen Ängsten und unkontrollierten Reaktionen sind das Bemühen um Transparenz, um eine sach- und verständnisgerechte Kommunikation und die öffentliche Führung eines ethischen Diskurses entgegenzuhalten. Dies ist Teil nicht nur der Wissenschafts-, sondern auch der Kulturpolitik. Die involvierten Bundesämter müssen im Rahmen der Ressortforschung die ihnen zugestandene wissenschaftliche Unterstützung anfordern.

Eine umfassende Kulturstatistik gehört zum kulturpolitischen Instrumentarium

Für die wissenschaftliche Arbeit und die übergeordnete kulturpolitische Begleitung und Steuerung bedarf es umfassender statistischer Grundlagen. Der Nachholbedarf ist, trotz aktueller Bemühungen quer durch alle Sparten – von der Kreativwirtschaft bis hin zum Blasmusikwesen und Laientheater –gross. Die Arbeit an der Kulturstatistik muss der Pluralisierung der künstlerischen Ausdrucksformen Rechnung tragen und Fragestellungen einbeziehen, die über pur ökonomische und quantifizierende Aspekte hinausgehen. Die Leistungsaufträge sind dabei nicht allein von der Verwaltung vorzugeben. Die jeweilige Themenstellung muss sich auch aus der Beobachtung der Entwicklung des Kulturlebens durch Fachleute ergeben. Wissenschaftliche und statistische Untersuchungen sind ein Teil des Fundaments auf dem Strategieentwicklungen und Evaluationen aufbauen. Defizite sind hier insbesondere in einem Segment kulturpolitischer Arbeit auszumachen, welches noch keine Erwähnung fand: im aussenpolitischen Wirkungsbereich einer umfassenden Kulturpolitik. Grosse Lücken bestehen hier bezüglich der Evaluation und der Analyse einzelner Kulturprogramme und des Einsatzes von Mitteln aus einzelnen Fonds. In der politischen Praxis muss der Stellenwert, der dem Kulturaustausch in unsern Aussenbeziehungen zukommt, wieder bewusst werden.

Der Kulturaustausch ist wesentlicher Teil der Aussenpolitik

Konkrete Kulturprogramme, Finanzhilfen und kulturpolitische Massnahmen gehören in die aussenpolitische Agenda. Die kulturelle Verständigung ist ein Beitrag zur Verständigung unter den Völkern und zur Friedenssicherung. Gerade im Austausch mit Entwicklungsländern wird deutlich, dass Kultur keinen Luxus darstellt, sondern im Sinne der Entwicklungsförderung und der Pflege des kulturellen Erbes ein taugliches Instrument gegen die Armut sein kann. Das Kulturleben kann hier auch unmittelbar als ökonomischer Faktor wirksam werden. Es ist Aufgabe der Kulturpolitik, die Präsenz von kulturellen Gütern aus Entwicklungsländern und die Nachfrage danach in der Schweiz zu fördern, und in den Partnerländern Infrastrukturen und Organisationen, welche eine akademische Ausbildung ermöglichen, zu unterstützen. Die internationale Dimension der Kulturpolitik ist auch für das inländische Kulturschaffen unerlässlich. Sie ermöglicht Schweizer Kulturschaffenden die Teilnahme beispielsweise an europäischen Kulturprogrammen. Der internationale Austausch in beiden Richtungen verhindert eine Marginalisierung des schweizerischen Kulturlebens. Er hält die Horizonte offen, ermöglicht die Teilnahme am globalen Dialog und bringt Schweizer Kulturschaffende in Kontakt mit neuen Entwicklungen. Die Kulturpolitik muss den Kulturaustausch mit dem Ausland stimulieren, gerade in den innovativen und experimentellen Bereichen und bezüglich der kulturellen Produktion aus kleinräumigen und wenig erschlossenen Zonen, weil hier der globalisierte Markt aus kommerziellen Gründen nichts hervorbringt.

Kulturpolitik im Netzwerk von Gesetzgebung und Ökonomie

Im internationalen Austausch wird besonders ersichtlich, dass Kulturpolitik in grossen Zusammenhängen zu definieren ist. Wenn in bilateralen und multilateralen Verhandlungen internationale Wirtschaftsabkommen geschlossen werden, an denen Schweizer Akteure beteiligt sind, ist es Sache einer engagierten Kulturpolitik, den Standpunkt zu vertreten, dass kulturelle Werte nicht ökonomisch verhandelbar sind.. Der internationale Kulturaustausch erfordert für die Ausrüstung kultureller Produktionen Importerleichterungen und andere dem Austausch förderliche Zollabkommen. Neu sind Doppelsubventionierungen im Sinne von Förderungsbeiträgen mit verschiedener Stossrichtung zuzulassen. Notwendig ist auch Beweglichkeit in Visumsfragen. Der kulturelle Personenverkehr zwischen der Schweiz und Afrika oder Südamerika beispielweise leidet unter aufwendigen, kostenträchtigen und zum Teil diskriminierenden bürokratischen Auflagen. Die Details führen auf die Ebene der Regelungen, Verordnungen und damit zu Fragen der Gesetzgebung, die in vielen kulturpolitischen Fragen von Belang sind. Die Gesetzgebung im gesamten Bereich des Kommunikations- und Immaterialgüterrechts ist ein Fundament des Kulturschaffens, zumal auch auf ökonomischer Ebene. Sie muss auch auf internationalem Feld im Sinne des Schutzes und der Förderung der kulturellen Vielfalt verhandelt werden.
Innenpolitisch relevante kulturpolitische Aspekte sind im Zusammenhang mit dem Bauwesen und Raumplanung zu identifizieren. Steuer- und Versicherungsfragen können kulturpolitisch bedeutsam sein: So gilt es zu verhindern, dass eine Neuregelung der Mehrwertsteuer zulasten des Kulturlebens durchgesetzt wird, und es gilt zu erwirken, dass neue Bestimmungen bezüglich der Versicherungsprämien die Museumsbudgets entlasten. Eine kulturpolitische Aufgabe ist es auch, günstige Voraussetzungen für das Wachstum der Kreativwirtschaft zu schaffen. Diese hat sich zu einem bedeutenden Wirtschaftsfaktor entwickelt. Kulturförderung generiert nicht nur Kosten, sondern zahlt sich langfristig auch aus.

Investitionen verwandeln Geldmittel in festliche Gewänder

Gleichzeitig muss erkannt werden, dass sowohl die Umsetzung der UNESCO-Konvention zum Schutz und zur Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen wie auch eine umfassende Kulturpolitik des Bundes bedeutende Investitionen auch in finanzieller Hinsicht erfordern. Der Begriff Investition meinte einmal das Einsetzen in ein Amt, das Verleihen der Zeichen der Amtswürde insbesondere durch die feierliche Einkleidung. Die Übertragung des Begriffs auf die nutzbringende Anlage von Kapital erfolgte im Deutschen erst im 19. Jahrhundert und verdankt sich dem Bild, dass dem Geld eine andere Erscheinungsform gegeben wird. Die Investition in den Schutz und die Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen bedeutet eine Umwandlung der Finanzmittel in wahrhaft festliche Gewänder. Der Begriff Investition ist in diesen Zusammenhängen denn auch weit zutreffender als jener der Subvention, deren Begriffsbestimmung als zweckgebundener Zuschuss von staatlichen Mitteln ohne Rückerstattungspflicht im Deutschen auch erst im 19. Jahrhundert geläufig wurde. Investitionen in kulturelle Belange sind in allen Lebensbereichen nutzbringend. Das ist nicht in Quartalsabschlüssen nachzuweisen, sondern bedarf des Weitblicks. Die aktuellen Erfahrungen lassen keinen Zweifel daran, dass diese Investitionen nachhaltiger sind als jene, welche in den letzten Jahrzehnten der Wirtschaft zukamen. Investitionen in ein reiches Kulturleben arbeiten dem Verlust der »Verhältnismässigkeit« entgegen, der als Kern der heutigen gesellschaftlichen Problematik erkannt werden kann.

Die kulturelle Vielfalt gehört zur Substanz des Gemeinwohls

Die Fähigkeit, sich »ins Verhältnis zu setzen«, Verhältnisse einzugehen und dafür einzustehen, ist in den letzten Jahrzehnten der Verhältnislosigkeit gewichen. Statussymbole, Einkommen und Machtfülle sind Stichworte für den Narzissmus der Generation der Berufstätigen; die hohe Bewertung der Labels, der momentanen Befindlichkeit und der Körperkraft solche im Hinblick auf die Jugend. Das einzige Verhältnis das beide Altersgruppen unter verschiedenen Vorzeichen eingehen, ist die Position im »Ranking«. Das Einbinden in ein vielfältiges kulturelles Umfeld kann diesem Narzissmus entgegenwirken. Immanuel Kant hat über die Entwicklung des Interesses am Ich zum Interesse am Andern und endlich am Weltbesten geschrieben. Eine etwas kleiner dimensionierte Vokabel als »Weltbestes« ist in seinen pädagogischen Erwägungen auch zu finden: das Gemeinwohl. In Zeiten der Verhältnislosigkeit ist an dieses beinahe vergessene Wort zu erinnern. Die Vielfalt der kulturellen Ausdrucksformen gehört zur Substanz dieses Gemeinwohls.

Das letzte Wort sei doch der Ökonomie zugestanden. Der Nationalökonom John Stuart Mill schrieb vor 150 Jahren in seinem Essay über die Freiheit: »Nicht dadurch, dass man alles Individuelle zur Einförmigkeit abflacht, sondern indem man es ausbildet und seine Kräfte aufbietet – innerhalb der durch die Rechte und Interessen anderer gezogenen Grenzen –, wird das menschliche Wesen zu einem edlen und schönen Gegenstand der Betrachtung… Im Verhältnis zur Entwicklung ihrer Individualität erhöht sich der Wert jeder Persönlichkeit für sich selbst und wird dadurch wieder schätzbar für andere.«

Zürich, im August 2009, Daniel Fueter

Orginaltext: deutsch